Ackermanngemeinde aus Würzburg besucht Greifendorf, den Geburtsort von Pater Engelmar Unzeitig – „Jeder war ein Bruder für ihn“
Vom Schönhengster Rücken, der Wasserscheide zwischen Elbe und Donau, weht kaum unterbrochen ein strammer Wind über das flache Land des Schönhengstgaus mit seinen Feldern und Wiesen. Er bricht sich an den schmucklosen, geduckt ins Tal geschmiegten Häusern der Dörfer, die den Straßen oft kilometerlang wie eine Perlenkette folgen. Die friedlich, beinahe etwas schläfrig wirkende Landschaft will so ganz und gar nicht zu dem Engelmar Unzeitig passen, den seine Mithäftlinge im Priesterblock des KZ „Engel von Dachau“ oder „Maximilian Kolbe der Deutschen“ nannten.
Und doch ist hier in dem kleinen Ort Greifendorf in einer der ehemals größten rein deutschen Sprachinseln des Sudetenlandes der spätere Mariannhiller-Pater und Märtyrer Engelmar Unzeitig aufgewachsen. Im Januar 1945 hatte er sich freiwillig gemeldet, um die massenhaft dahinsiechenden Typhuskranken des Lagers zu pflegen. Die Asche des wenig später mit nur 34 Jahren Verstorbenen befindet sich seit 1968 in der Mariannhiller Herz-Jesu-Kirche in Würzburg. Für die 2016 wird die päpstliche Anerkennung des seit 1991 laufenden Seligsprechungsverfahrens erwartet.Vor Kurzem war eine Gruppe der Würzburger Ackermann-Gemeinde gemeinsam mit dem neuen Provinzial der Mariannhiller Missionare, Pater Michael Maß CMM, und Bruder Thomas Fischer CMM auf Spurensuche in der ostmährischen Heimat Engelmars, der als Märtyrer der Nächstenliebe im KZ Dachau den Nationalsozialisten die Stirn geboten hat.
„Natürlich lässt sich nicht alles aus seiner Jugend herleiten, vieles ist göttliche Gnade und Berufung“, erklärt Domkapitular Monsignore Dr. Stefan Rambacher, der als Bischöflicher Delegat das Verfahren zur Prüfung des Martyriums von Unzeitig geleitet hat und ebenfalls bei der Reise auf den Spuren von Pater Engelmar mit dabei war. Dennoch sieht auch er die Wurzeln für das tiefreligiöse, nach innen gewendete Wesen Engelmars in seinen frühen Jahren in Greifendorf, dem heutigen Hradec n. Svitavou, wo Engelmar seine Kindheit und Jugend verbracht hat, bis er 1928 als 17-Jähriger ins Spätberufenenseminar der Mariannhiller in Reimlingen/Ries eintritt. Nur noch einmal ist ein Aufenthalt Engelmars in Greifendorf überliefert: Am 15. August 1939 feiert er in der örtlichen Katharinen-Kirche Primiz.
Auf sieben Kilometer erstreckt sich das bis 1910 auf 2800 Einwohner angewachsene Straßendorf entlang der Handelsstraße, die Zwittau mit Brünn und Wien verbindet. Viele Häuser sind renoviert, haben neue Fenster und Ziegel, in den Vorgärten locken Blumen. Bauarbeiter sind dabei, die notdürftig angelegten Fußpfade entlang der Straße durch gepflasterte Gehsteige zu ersetzen. Nach dem Kollaps des Kommunismus kehrt das Leben langsam auch in die Randgebiete Tschechiens zurück. Kaum verändert erhalten ist das Wohnhaus Engelmars, ein einfaches, weißgetünchtes Haus am Ortsrand. Nur der Zaun aus Holzstickeln, der den bunt blühenden Garten umgibt, wurde durch einen modernen Drahtzaun ersetzt.
Bis zur Pfarrkirche St. Katharina, wo Pater Engelmar auf den Namen Hubert getauft wurde und Erstkommunion feierte, ist es etwa eine halbe Stunde Fußmarsch. Noch heute befinden sich hier die aufwendig bestickten Primizgewänder und der Taufstein Engelmars, daneben steht eine Skulptur des tschechischen Holzschnitzers Petr Steffan aus Markt Türnau. Für den etwa 30-Jährigen ist der Märtyrer ein Vorbild im Glauben. „Beim Schnitzen habe ich viel über den Ordensmann nachrecherchiert und versucht, mich in ihn einzufühlen“, erzählt er. Der in KZ-Kluft gekleideten Holzfigur, die in ihren übergroßen Händen ein Brot hält, ist das Leiden, aber auch seine bodenständige Hilfsbereitschaft anzusehen.
Ebenso weit wie nach St. Katharina ist es in Richtung Zwittau zum Redemptoristen-Kloster Vierzighuben, dessen großzügige Backsteinkirche als Teil eines psychiatrischen Krankenhauses die Verheerungen des Kommunismus weitgehend unverändert überstanden hat. Hier ringt er um seine Berufung als Priester und Ordensmann. Die besorgte Mutter beruhigt ein Pater mit den Worten: „Lassen Sie ihn studieren; hier ruft der Herrgott!“ Noch heute lässt sich hier authentisch die Atmosphäre spüren, die Pater Engelmar im Gebet erfahren hat.
Noch vor wenigen Jahren wusste niemand im Ort, wer vor der Vertreibung der Deutschen 1946 in dem Anwesen am Ortsrand Greifendorfs gewohnt hat. Auch Milosch Cvrkal nicht, der sich in seinem Ruhestand der Wiederentdeckung des Märtyrers in seinem tschechischen Heimatort verschrieben hat. Erst durch ein Porträtfoto, das er aus Amerika geschickt bekommen hat, hat er von ihm erfahren. Dank seiner Arbeit wissen nun zumindest die etwa zehn Prozent Katholiken um das mildtätige Wirken des Märtyrers. Ihre Häuser sind heute wieder auch nach außen an den Zeichen der Heiligen Drei Könige „C+M+B“ zu erkennen, die auch noch im Herbst über den Türstöcken zu finden sind. Doch der frühere Techniker des katholischen Pfarramts in Svitavy/Zwittau bremst die Euphorie: Noch vor wenigen Jahren habe der Gemeinderat eine Tafel für einen Lehrpfad abgelehnt, erzählt er – auch 70 Jahre nach Kriegsende hatte der Antrag in dem beinahe vollständig säkularisierten Land, das seit dem Scheiterhaufen-Tod des Reformators Jan Hus 1415, der katholischen, von den Deutschen dominierten Kirche mit äußerster Skepsis begegnet, keine Chance. Nicht jeder denkt so wie Cvrkal: „Es ist unwichtig, ob Engelmar ein Deutscher oder ein Tscheche war, er hat selber nicht zwischen den Menschen unterscheiden, jeder war ein Bruder für ihn.“
In seiner knapp 400-seitigen Biografie „Eine Spur der Liebe hinterlassen“ schildert Pater Adalbert Ludwig Balling, der beste Kenner des Lebens und Wirkens Engelmar Unzeitigs, ausführlich dessen frühe Jahre. 1916 stirbt der Vater mit nur 37 Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft, Mutter Maria, eine herzensgute Frau, die der Glaube die Kraft gibt, kümmert sich als Alleinerziehende um ihre fünf Kinder. Schon früh müssen sie in der kleinen, 13 Hektar großen Landwirtschaft mit anpacken. Nach dem Ersten Weltkrieg herrschen hungersnotähnliche Zustände, auch die Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1931 trifft die Region hart. Halt bietet den Menschen, die sich mit der seit 1919 unabhängigen Tschechoslowakei und einer forcierten Tschechisierungspolitik nicht identifizieren können, das ungebrochen in Blüte stehende katholische Brauchtum. „Bei uns war die Kirche immer voll. Greifendorf war gut katholisch“, erinnert sich Engelmars Schwester Maria-Huberta. Mischehen oder rein standesamtlich geschlossene Ehen habe es nicht gegeben.
Familie Unzeitig besucht täglich die Messe in der Katharinen-Kirche. Als immer mehr Schönhengster Hilfe von Hitler erwarten, setzt, wie die Schwester zu Protokoll gegeben hat, auch der junge Engelmar kurzzeitig auf den vermeintlichen Erlöser aus Deutschland, erkennt jedoch schon bald seinen Irrtum. Der Kampf gegen die Kirche und der Judenhass sind nicht die Sache der Familie: „Zu Hause waren wir nicht für Hitler, obwohl wir von den Tschechen unterdrückt wurden. Wir waren halt Deutsche! Unterdrückt wurden wir ja auch nur von den Beamten. Die einfachen Leute waren sehr gut zu uns.“ Der 14-Jährige, der in der Volksschule erlebt, wie die Schüler angehalten sind, Tschechisch zu sprechen, reagiert auf die wachsenden Spannungen zwischen den Völkern auf seine Weise: 1925/26 arbeitet er ein Jahr lang in einem Nachbarort als Knecht für einen tschechischen Bauern mit dem Ziel, Tschechisch zu lernen, die Sprache, die auch seine Mutter fließend beherrschte. Später, in Glöckelberg, wo er seine erste Stelle als Seelsorger angetreten hat, steht er von Beginn für klare Worte. Die Gestapo lässt ihn nicht lange gewähren. Nach wenigen Monaten verhaftet sie ihn im April 1941 und überweist ihn nach Dachau.
Der Junge, der später in Würzburg Theologie und Philosophie studierte, verschlingt damals Buch auf Buch, entleiht unermüdlich Lesestoff vom Pfarrer und aus dem katholischen Vereinshaus. Eifrig durchblättert er die Zeitschrift der Mariannhiller Missionare, die sich die Großmutter aus Österreich schicken lässt. Als Tor zur Welt dient ihm die benachbarte, 1939 etwa 10.000 Einwohner große Kreisstadt Zwittau, einer Industriestadt, die mit ihren 133 Textilfabriken als „mährisches Manchester“ galt, aber auch einen Schmelztiegel der drei böhmischen Kulturen, von Deutschen, Tschechen und Juden darstellte. Hier wird Engelmar 1921 in der Spitalkirche gefirmt, auch die Pfarrkirche Heimsuchung Mariae besucht er regelmäßig.
Wie reich die Gegend mit lebendigem Kulturerbe gesegnet ist, zeigt ein Wettstreit, der so wohl nur hier denkbar ist. Welche Stadt besitzt nun den längsten, von Arkaden und bunt gestrichenen Häusern flankierten Marktplatz Tschechiens, das mährische Zwittau oder seine böhmische, nur 15 Kilometer entfernte Schwesterstadt, das UNESCO-Weltkulturerbe, Leitomischl? Wiederholt haben Historiker nachgemessen. Die Ergebnisse schwanken um die 500 Meter, sie unterscheiden sich je nach Auftraggeber. Beide Städte spiegeln jedoch auch wider, wie rasch sich beide Nationen im 19. Jahrhundert auseinander entwickelt haben und die Kulturen strikt getrennt nebenher lebten: Das überwiegend von Tschechen bewohnte Leitomischl ist eine Hochburg der tschechischen Nationalbewegung, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat: Der Komponist Bedrich Smetana, die Schriftstellerin Bozena Nemcova oder des exzentrischen Künstlers Josef Vachal, an dessen „Kravy Roman“ („Blutiger Roman“) ein Sgraffito, eine mehrere Meter lange Außenwandmalerei, erinnert, lebten hier. In dem überwiegend deutschen Zwittau dagegen fasst die nationalistische Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins frühzeitig Fuß. Auch der Industrielle Oskar Schindler, ein Altersgenosse Engelmars, an dessen Wiederentdeckung als Freund der Völker die Frankfurter Ortsgruppe der Ackermann-Gemeinde großen Anteil hatte, gehört zunächst zu seinen Anhängern.
„Alles Positive am Zusammenleben von Deutschen und Tschechen war plötzlich in Vergessenheit geraten“, fasst Radoslav Fikejz die unheilvolle Entwicklung zusammen. Der junge Stadthistoriker vermeidet bewusst die tschechischen, noch aus der Zeit des Kommunismus stammenden, verharmlosenden Begriffe „Odsun“ (Abschiebung) oder „Transfer“ und spricht stattdessen von „Vertreibung“. Ein auch heute noch gewagter Schritt, der noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre. Er ergänzt: „Mit der Vertreibung der Deutschen ging eine Vernichtung des historischen Gedächtnisses einher. Die Chronik der Stadt ist heute der Friedhof.“
Auch Familie Unzeitig teilt das Schicksal von Millionen Deutschen aus dem Sudetenland. Ebenso wie ihre Mitbürger wurden 1946 die beiden noch in Greifendorf lebenden Schwestern Emilie und Elsa vertrieben, ganz gleich ob ihr Bruder als Märtyrer der Nächstenliebe im KZ gestorben war oder nicht. Engelmars Briefe, Schulhefte und persönlichen Aufzeichnungen blieben auf der Flucht zurück. Sie sind bis heute spurlos verschwunden.