Pater Engelmar Hubert Unzeitig (1911-1945) – Der Engel von Dachau – Blutzeuge der Nächstenliebe
Versäume nicht, den Spuren der Heiligen und Guten zu folgen! So schrieb einst Thomas von Aquin an seinen Mitbruder Frater Johannes, der sich anschickte, Theologie zu studieren. Den Spuren der Heiligen und Guten folgen. Richtig! Aber welchen Heiligen? Welchen Guten? – Nach Meinung der Kirche gibt es „ein Heer von Millionen und Abermillionen stiller Heiliger in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche“, schreibt Kirchenrechtsprofessor Dr. Winfried Schulz. Wenn die Kirche – via eines vorausgegangenen „Prozesses“ ermittelt, Erkundigungen einzieht und schließlich die Selig- beziehungsweise Heiligsprechung einer bestimmten Person vornimmt, dann soll damit unter anderem auch auf den besonderen Zeugnischarakter des oder der Betreffenden verwiesen werden.
Für Pater Engelmar Hubert Unzeitig wurde am 26. Juli 1991 das „Diözesane Erhebungsverfahren“ (sprich: Einleitung zur Selig- und Heiligsprechung) von Bischof Paul-Werner Scheele, Würzburg, eröffnet. Der unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefundenen konstituierenden Sitzung ging eine kurze Andacht in der Krypta der Herz-Jesu-Kirche in Würzburg voraus, an der nicht nur die Mariannhiller Missionare teilnahmen, sondern auch nahe Verwandte Pater Engelmars sowie ehemalige Mithäftlinge der Priesterbaracke in Dachau.
Weitere wichtige Schritte Richtung Seligsprechung wurden im Laufe der letzten 25 Jahre in Rom getätigt, zuletzt unter Leitung des Postulators Dr. Andrea Ambrosi.
Pater Engelmar hat viele Spuren der Liebe hinterlassen. Er hat Zeugnis abgelegt; er hat Wegzeichen gesetzt – vor allem während der letzten Wochen und Monate seines relativ kurzen, aber heroischen Lebens im Konzentrationslager Dachau. Dort ist er den Tod eines Märtyrers der Nächstenliebe gestorben.
Dass wir relativ gut über sein Leben und Wirken in Dachau unterrichtet sind, verdanken wir den über 70 Briefen, die er aus dem KZ geschrieben hat und die uns erhalten geblieben sind – sowie den detaillierten Berichten ehemaliger Mithäftlinge im sogenannten Priesterblock des Lagers, von denen ich rund sechs Dutzend persönlich kennenlernen durfte, vorwiegend auf einem ihrer alle zwei Jahre stattfindenden Ehemaligen-Treffen – 1979 in Freiburg. Sie alle bezeugten: Pater Engelmar war mit 34 Jahren freiwillig in die Todesbaracke von Dachau gegangen, pflegte dort vor allem ukrainische und russische Häftlinge, die an Typhus erkrankt waren, um die sich die SS-Lagerleitung nicht mehr kümmerte.
Pater Engelmar spendete den Todkranken, wenn erwünscht, die Sakramente und wurde schließlich selbst Opfer dieser tückischen Seuche.
Die äußeren Lebensdaten von Hubert Unzeitig sind rasch erzählt: Er wurde am 1. März 1911 in Greifendorf im mährischen Schönhengstgau (Tschechien) geboren – als einziger Junge unter vier Mädchen. Der Vater, Landwirt von Beruf, starb 1916 in russischer Gefangenschaft, wahrscheinlich an Typhus.
Als 17jähriger meldete sich Hubert (sein Taufname) im Spätberufenen-Seminar der Missionare von Mariannhill in Reimlingen/Diözese Augsburg, machte 1934 das Abitur und ging anschließend ins Noviziat – im holländischen St. Paul bei Arcen/Venlo. Hier erhielt er den Ordensnamen Frater/Pater Engelmar. Philosophie und Theologie studierte er in Würzburg, wo er im August 1939 von Bischof Matthias Ehrenfried zum Priester geweiht wurde. Noch während seines Primizurlaubs in seiner Heimatgemeinde Greifendorf in Mähren brach der Zweite Weltkrieg aus.
Pater Engelmar wirkte vorübergehend in Riedegg bei Linz/Österreich und übernahm im Herbst 1940 die Seelsorgestelle Glöckelberg im Böhmerwald/Tschechien. Ein halbes Jahr später wurde er „wegen heimtückischen Äußerungen und Verteidigung der Juden“ angezeigt und (am 21. April 1941) von zwei Gestapoleuten abgeführt. Es folgten sechs Wochen Untersuchungshaft in Linz/Donau; dann wurde er (am 3. Juni 1941) in das Konzentrationslager Dachau „überstellt“. Damit begann der leidvolle Weg seines jungen Priesterlebens; er war erst 3o Jahre alt – und noch keine zwei Jahre Priester.
„Das größte Kloster der Welt“
Was im KZ auf ihn wartete, war hart, unmenschlich, widerlich, mitunter satanisch: Sträflingskleidung, Holzschuhe, Hungerkost, seelischer Terror, Zwangsarbeit bei Sommerhitze wie Winterkälte und steter militärischer Drill. Mensch war dort keiner mehr, nicht in den Augen der SS; nur noch Nummer. Pater Engelmar trug die Lagernummer 26.147. Dass er sich trotz schrecklicher Schikanen mühte, auch religiös durchzuhalten, vermerkte er bereits in einem seiner ersten Briefe aus dem KZ: „Ich suche die Zeit hier so gut als möglich auszunützen für die seelische und religiöse Vervollkommnung. Nicht an letzter Stelle stehen auf meinem Programm Gebet und Sühne.“
Jesuitenpater Lenz, ehemaliger KZ-Häftling und mit Pater Engelmar befreundet, nannte Dachau einmal das „größte Kloster der Welt“. Fast 3.000 Priester lebten und litten dort zeitweise auf engstem Raum. Sie waren in zwei Baracken untergebracht; die deutschsprachigen Priesterhäftlinge auf Block 26, die Mehrzahl der polnischen Geistlichen im Block nebenan, auf 28. Seit Anfang 1941 gab es in der deutschen Priesterbaracke eine „Lagerkapelle“.
Für Pater Engelmar und viele Mithäftlinge (unter ihnen auch der aus der Diözese Würzburg 2012 seliggesprochene Pfarrer Georg Häfner sowie Diakon Karl Leisner, der im Dezember 1944 heimlich im Dachauer Lager zum Priester geweiht wurde) war die KZ-Haft nicht nur ein Leidensweg, sondern auch eine Schule des Gebetes. Einer der ehemaligen Priester-Häftlinge meinte später mit Recht, die eigentliche Gnade dieser Jahre sei es gewesen, in Dachau Gott intensiver gesucht zu haben.
Ab April 1942 arbeitete Pater Engelmar auf der Plantage, einem Gelände, das viele Hektar umfasste und größtenteils aus Gewürzgärten und Versuchsfelder bestand. Zu Hunderten rutschten die Häftlinge auf den Knien, jäteten Unkraut und krochen in pestartig stinkenden Wassergräben herum, ohne jeden Schutz vor der Witterung – noch vor den Kapos (Häftlings-Vorarbeiter), die sie oft wie Vieh misshandelten.
Hans Brantzen, der mit Pater Engelmar auf der Plantage arbeitete, äußerte sich später über den Mariannhiller Pater in bewegenden Worten: „Es waren furchtbare Monate. Wir mussten Schubkarren schieben und Beete ausheben; wir saßen bei Regen und Sturm auf Pikierbeeten, Unzeitig und ich, oft zusammen. Ohne ein falsches Loblied singen zu müssen, darf ich beteuern: Er war immer der Gleiche; wenn andere klagten und heimdachten an die guten alten Tage, schaute er nach oben zum Vater. Und es half! Hauptpunkte seines feinen Charakters waren Bescheidenheit, Ruhe und Verträglichkeit in der Enge des Blocks. All das ließ ihn nicht auffallen. Was auffiel, war seine Güte, wenn er bei den Mitbrüdern für andere arme Häftlinge bettelte… – Wenn wir von der harten Arbeit zurückkamen, um unseren Schlag Steckrüben oder anderes (KZ-Essen) zu fassen, sah man ihn in die Kapelle gehen, bevor er die Stube betrat. Abends war Unzeitig stets für Minuten in der Kapelle zu sehen. Desgleichen vor jedem Antreten. Mit größtem Heroismus blieb er stets gleich hilfsbereit und still…“
In einem Brief vom 15. Dezember 1941 schrieb Pater Engelmar an seine Lieben zu Hause: „Was vielleicht manchmal als Unglück erscheint, ist oft das größte Glück. Wie vieles lernt der Mensch erst durch die Erfahrung in der Schule des Lebens!“ – Ein paar Monate später: „Hoffen wir, dass Getreide und Obst doch noch in etwa gute Ernten einbringen, damit das Hungergespenst nicht wieder beschworen werde und sich Gott auch derer wieder erbarme, die bei jedem Bissen Brot auf den guten Willen anderer angewiesen sind.“ – Das war eine wenngleich verschlüsselte, doch unüberhörbare Nachricht vom eigenen Schicksal und der eigenen Mutlosigkeit im Hungerjahr 1942, das die Dachauer KZ-Häftlinge besonders stark getroffen hatte.
Seelsorge für russische Mithäftlinge
Im Herbst 1942 wurde es den Häftlingen erlaubt, sich Pakete (auch mit Esswaren) von zu Hause schicken zu lassen. Das rettete vielen das Leben.
Pater Engelmar arbeitete jetzt in der Messerschmitt-Abteilung des Lagers. Hier sollen unter anderem auch Teile für die berühmt-berüchtigte V2-Raketen gefertigt worden sein. Hier hatte er enge Kontakte zu vielen Häftlingen aus der Sowjetunion. Hans Brantzen schreibt: „Hier erlebten wir bei Pater Engelmar ein Ereignis besonderer Prägung, bei dem seine Hilfsbereitschaft für religiös suchende Menschen besonders zum Ausdruck kam. Ein russischer Familienvater, Peter mit Namen, musste uns in die Anfänge der Technik einführen. Peter entpuppte sich als ein schlichter, aber geistig reifer Mensch. Und so begannen bald Gespräche um Gott in den langen Nächten; es waren Nikodemusstunden ganz besonderer Art. Pater Unzeitig nahm sich dieses Suchenden an. Die beiden trafen sich heimlich auch außerhalb der Arbeitszeit (es wurde in Schichten gearbeitet!) oft zu Zwiegesprächen. Um sich besser mit Peter verständigen zu können, lernte Pater Unzeitig fleißig Russisch. Aber in Peter blieb eine letzte Unsicherheit, ein letztes Bangen…“
Als Peter später erfuhr, Pater Engelmar habe sich freiwillig in die Typhusbaracke gemeldet, war er zutiefst beeindruckt. Brantzen dazu: „Der Tod seines Missionars erschütterte ihn (Peter) fürchterlich. Er verehrte Unzeitig wie einen Heiligen.“
Pater Engelmar äußerte im Lager wiederholt die Hoffnung, nach dem Krieg als Missionar im Osten (Russland) tätig werden zu wollen. „Überhaupt bestimmte der Missionsberuf sein Handeln“, schrieb Josef Witthaut, ebenfalls ehemaliger Mithäftling Unzeitigs in Dachau: „Er schien immer nur daran zu denken, wie er anderen helfen könne, sich selbst sah er zuletzt. Wenn von daheim ein Paket kam, hatte er stets Bekannte, denen er helfen musste. Auch vielen Confratres war bekannt, dass Unzeitig immer wusste, wo es Hunger zu stillen gab. So ging manche Gabe durch seine Hand weiter an Zivilhäftlinge, von denen er sehr viele infolge seiner langen Haftzeit kannte und die durch ihn Hilfe fanden…“
Einen russischen Ingenieur (und hohen Parteifunktionär, wie sich nach dem Krieg herausstellte) brachte Pater Engelmar wieder zum Glauben zurück. – Einen ähnlich tiefen Eindruck muss er auf einen deutschen SS-Mann gemacht haben. Augenzeugen zufolge verstand er sich so gut mit ihm, dass der SS-Mann kaum mehr eine private Entscheidung traf, ohne vorher den Pater zu konsultieren.
In den letzten Dezemberwochen 1944 spitzte sich die Lage in Dachau dramatisch zu. Eine Flecktyphus-Epidemie erfasste mehrere Baracken. Tausende Häftlinge, vor allem aus der Sowjetunion, wurden dahingerafft. Die Erkrankten lagen oft tagelang im Delirium, stöhnten, schrien, verfielen dem Wahnsinn; sie waren über und über mit Läusen und Flöhen, den Überträgern dieser Krankheit, bedeckt. Wegen der direkten Ansteckungsgefahr war kaum jemand bereit, dort einen Pflegeposten zu übernehmen. Die SS ließ sich ohnehin in diesen Baracken nicht mehr sehen, sie forderte aber die beiden Priesterblocks auf, den deutschen und den polnischen, je zehn Geistliche zur Pflege der Typhuskranken zur Verfügung zu stellen.
Pater Engelmar war einer der ersten, die willens waren, die Todgeweihten zu pflegen. Er hatte sich übrigens schon Wochen vorher halbheimlich dort als „Blockschreiber“ anstellen lassen, mit dem Hintergedanken, so den Erkrankten auch seelsorgerlich näher sein zu können.
Ein letzter Liebesdienst
Diese Entscheidung, sich für die Typhuskranken zur Verfügung zu stellen, war (diesbezüglich stimmten alle ehemaligen Mithäftlinge überein) Pater Engelmars ganz persönliche und sehr heroische Tat. Hier liegt auch die Parallele zu Maximilian Kolbe am nächsten. Mehrere ehemalige Häftlinge nannten Pater Engelmar nicht nur den „Engel von Dachau“, sondern auch den „Maximilian Kolbe der Deutschen“. Bei beiden Vergleichen handelte es sich um die Bereitschaft, aus Nächstenliebe den eigenen Tod hintanzustellen. Pfarrer Josef Wittmann bestätigte dies: „Von Pater Unzeitig weiß ich als Bettnachbar, dass er sich bei seiner (freiwilligen) Meldung für die Typhusbaracke der Schwere der Entscheidung sehr wohl bewusst war.“
Mit ihrem Einzug in die Typhusbaracke entfalteten die 20 katholischen Geistlichen, neben der Krankenpflege, auch eine rege pastorale Tätigkeit. „Wer wollte, konnte beichten, kommunizieren und die heilige Ölung empfangen“, schrieb Pater Sales Hess (Münsterschwarzach) später in seinem Buch „Dachau – eine Welt ohne Gott“. Von Jesuitenpater Lenz liegt uns ein langer, detaillierter Bericht über die letzten Tage des Mariannhiller Missionars vor. Daraus ein paar Zeilen: „Pater Engelmar war ein Mann, der kein Opfer scheute. Eines Mittags wurde ich ans Fenster gerufen; er (Pater Engelmar) hatte geklopft. Er war heiter – bei allem tödlichen Ernst der Lage. Das Glück seines priesterlichen Wirkens sprach aus seinem edlen, feingeschnittenen Antlitz. Einige Tage später ließ er mich abermals rufen… Aber sein Gesicht ließ mich diesmal erschrecken. Von hohem Fieber glänzten seine Augen, und die eingefallenen Wangen zeigten scharf geränderte rote Flecken. Etwas gekrümmt, stand er da, geschüttelt von Fieberfrost; es war noch Winter, etwa um den 20. Februar 1945. Meine Mahnung zur Vorsicht beantwortete er mit einem freundlichen Lächeln. Er schien nicht zu ahnen, dass der Tod ihn bereits unwiderruflich festhielt. Er wollte ja noch vielen helfen, und viele warteten auf seine Hilfe. An sich selbst jedoch dachte er nicht.“
Beide, Unzeitig und Lenz, hatten übrigens in Dachau herausgefunden, dass sie noch etwas anderes miteinander verband: Je eine ihrer leiblichen Schwestern waren damals bereits Mitglieder der Mariannhiller Missionsschwestern vom Kostbaren Blut in Wernberg, Kärnten. Pater Lenz gehörte übrigens zu den zehn deutschsprachigen Geistlichen, die sich freiwillig gemeldet hatten; er überlebte die Typhusbaracke des Dachauer KZs als einziger Pfleger aus der deutschen Priestergruppe. Er hatte das Glück, rechtzeitig geimpft zu werden, noch bevor die entsprechenden Sera im Lager völlig aufgebraucht waren.
Zehn Tage nach der letzten Begegnung mit Pater Lenz erlag Pater Engelmar dem Flecktyphus: Am 2. März 1945, um 7.20 Uhr. Sein undatierter (wahrscheinlich letzter) Brief aus Dachau gleicht einem Vermächtnis; adressiert hatte er ihn an Sr. Adelhilde Unzeitig CPS, Kloster Wernberg bei Villach, Kärnten. Wir zitieren: „Liebe verdoppelt die Kräfte; sie macht erfinderisch, macht innerlich frei und froh. Es ist wirklich in keines Menschen Herz gedrungen, was Gott für diejenigen bereithält, die ihn lieben.“
Letzte Ruhestätte
Pfarrer Richard Schneider, Mithäftling Pater Unzeitigs, sorgte dafür, dass der Leichnam des Verstorbenen einzeln verbrannt wurde – heimlich und nachts durch den Kapo des Krematoriums, den Schneider aus seiner früheren Pfarrei persönliche kannte. Er, Schneider, war es auch, der die Asche aus dem KZ herausschmuggelte; Leo Pfanzer (aus Höchberg bei Würzburg, damals bei der Baywa in Dachau tätig) übernahm den Weitertransport zu den Missionaren von Mariannhill nach Würzburg, wo sie am Karfreitag 1945 auf dem Städtischen Zentralfriedhof beigesetzt wurde.
1968 erfolgte die feierliche Urnenübertragung in die Mariannhiller Herz-Jesu-Kirche in Würzburg. Damals meinte einer der anwesenden Priester: „Wir sollten nicht länger für Pater Engelmar beten, sondern zu ihm!“ n